Autobiografisches Schreiben kann irritierenderweise zu Verwechslungen führen
ROTHENBURG – Manfred Kerns neues Buch „Die Preisrede“ ist harte Kost. Auf 150 Seiten lässt er die Konflikte aus seinem Protagonisten herausquellen. Mit literarischer Wucht und Bildern, die im Gedächtnis bleiben erzählt er von der Unfreiheit, die Herkunft und Identität bedeuten, aber auch von jener, die man sich selbst schafft.
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Manfred Kern liest am Samstagabend in der Stadtbücherei aus seinem neuen Roman.
Es ist ein gut geschriebenes und klug konstruiertes Buch, eine Art Psychothriller mit in den Keller gesperrt werden, das Schweigen, das Peitschen, die Krankheit. Eine Kindheitsgeschichte, die erzählerisch in die 1960er Jahre konzipiert ist, in der auch der Autor Manfred Kern aufgewachsen ist. Der Roman zeigt der Gesellschaft, was sie lieber nicht sehen möchte. Das Buch kreist um überforderte Erwachsene. Das macht sie zu tragischen Figuren.
Gequälte Kinderseele
Am morgigen Samstag liest der aus Wettringen stammende Schriftsteller um 19.30 Uhr in der Rothenburger Stadtbücherei, wo er schon mehrfach zu Gast war. 1999 hat er sein erstes Buch veröffentlicht. Weitere Titel, zum Teil auch in fränkischer Mundart, folgten: „Meine Oma“, „Der Abgang“, „Heimatsong“. Dabei zeigt er sich sehr vielseitig: Gedichte, Erzählungen und Aphorismen umfasst sein Werk. 2013 wurde Manfred Kern mit dem Gottlob-Haag-Ehrenring ausgezeichnet, der an verdiente Kulturschaffende der Region Hohenlohe verliehen wird.
Und darum geht es in der „Preisrede“: Als der Schriftsteller einen renommierten Literaturpreis zugesprochen bekommt, nimmt er die Dankesrede zum Anlass, über ein Buch zu sprechen, das er nie fertig gebracht hat, das Opus Magnum, das Buch über seine Kindheit. Was folgt ist als freier Fall in die Vergangenheit konzipiert, wie ihn Menschen der damaligen Zeit ähnlich erlebt haben dürften.
Tief taucht die erwachsen gewordene Persönlichkeit, inzwischen selbst Vater einer Tochter und eines Enkelkindes, ein in die 1960er Jahre in seinem fränkischen Heimatdorf. In der Dorfschule herrscht nach wie vor der Rohrstock und daheim die zerstörerische Sprachgewalt des Vaters.
Als die Lehrerin die Schüler anweist, die heimische Mundart vor der Schultür abzulegen und nur noch Hochdeutsch zu sprechen, sie verachtet das Provinzielle und träumt von einer Stelle in der Kreisstadt, gerät in den Buben Max etwas aus den Fugen. Der Junge läuft immer wieder aus der Schule weg und die Spirale der Gewalt dreht sich weiter. Der dominante Vater hat eine geradezu sadistische Freude an körperlicher Züchtigung. Das Kind verschließt sich immer mehr. Es kann sich in seiner Sprachlosigkeit auch niemandem mitteilen. Der Bub wird bockig – und immer wieder drakonisch bestraft.
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„Die Preisrede“ in Mundart und Hochdeutsch.
Seelische Verletzungen in der Kindheit sind hartnäckig. Das marode Selbstwertgefühl, die nagenden Selbstzweifel, die Scham gegen sich, die schweren Demütungen wie Herabwürdigung, Erniedrigung, Züchtigung. Max sucht sein Heil im Sport, in der Welt des Fußballs, die im weiteren Verlauf seines Lebens immer wichtiger wurde, und später in der Kunst des Schreibens.
Nachdenklicher Stoff
„Ein Buch ist grundsätzlich eine Befreiung“, sagt Manfred Kern, „allein schon dadurch, dass man es geschrieben und geschaffen hat. Es gibt ein gutes Gefühl, etwas in die Welt gesetzt zu haben, von dem man glaubt, dass es haltbar ist, beziehungsweise Satz für Satz dem eigenen Anspruch entspricht“. Und natürlich habe er sich einiges von der Seele geschrieben: „Ich kann es ansehen wie ein Bild, werde vom Akteur zum Betrachter. Damit gewinne ich Macht über die Geschichte zurück.“
Wie autobiografisch ist „Die Preisrede“? Dazu sagt Manfred Kern: „Es wäre in Irrtum zu glauben, dass der Vater in dem Buch identisch wäre mit meinem Vater oder auch die anderen Personen.“ Auf dem Buchdeckel steht „Roman“. Die Eckdaten in dem Buch stimmen: „Aber nichts ist so passiert, wie es geschildert wurde, und manches wurde auch ganz erfunden.“ Er habe in keinem Moment versucht, die „Wahrheit“ zu schreiben. Er zitiert Goethe mit den Worten, es komme nicht darauf an, ob es wahr ist, sondern ob es etwas zu bedeuten hat. Es wäre ein Fehler, zu glauben, das sei seine Kindheitsgeschichte, wie sie passiert ist: „Ich habe eine eigene Geschichte nur benutzt, um diese Geschichte zu erzählen“.
Die Kunst des Wortes war Manfred Kern immer wichtiger als das tatsächliche Erlebnis. Alles bisherigen Rezensenten seines neuen Buches gehen auf das Autobiografische hinaus. Es verleiht „Der Preisrede“ ein größeres Gewicht. War das eigene Leben nicht immer der verlässlichste Stofflieferant?
Auch Manfred Kern spielt damit, durch die Fiktion erkannt zu werden, in dem geschundenen Max, den er in seinem Roman beschreibt. „Autobiografisch bin ich ein Schriftsteller und als solcher ein Erfinder und kleiner Schwindler.“ Wenn aber die Leser an manches aus ihrem eigenen Leben erinnert und bei sich einkehren würden, anlässlich der Lektüre und sagen könnten: Ja so war’s damals, so waren die Zeiten, dann wäre das ein schöner Erfolg, sagt er.
Themen wie Kindheit, Dorfleben, Mundart, Schreiben, beschäftigen Manfred Kern auch weiter. Eine direkte Fortsetzung der Kindheitsgeschichte sei nicht angedacht: „Aber wer weiß.“ Manchmal denke er „schon ein wenig in diese Richtung.“ Ihm gefällt der Ausspruch von Thomas Mann „Autobiographie ist immer“. Selbst wenn man die Geschichte vom Mann im Mond erzählen würde, würde man sie so erzählen, dass man sich selbst darin verkörpert, in all seinen Facetten, mit all seinen Träumen, Phantasien und Ängsten, betont Manfred Kern.
Seine „Preisrede“ behandelt auch Problemfelder der Gegenwart. Das Leben in der Familie, vor allem mit Kindern, Streit zwischen den Geschwistern, ist zumeist sehr emotional. Brüche in den Beziehungen werden oft ignoriert, manchmal überakzentuiert. Das Erlebte hinterlässt Spuren. Menschen verlieren den Glauben an die Liebe, die Hoffnung auf das Gute, den Sinn im Leben. Unglaublich, was Menschen einander antun – und wir heute? sis