Gertrud Schubart war Augenzeugin bei der Judenvertreibung
ROTHENBURG – Sie hat sich um die Erhaltung der Mundart und die Sprachpflege verdient gemacht, ihre Lebensleistung als Autorin mit künstlerischer Ader verdient Respekt. Man kennt sie auch als Zeitzeugin von ihrer Schilderung des Bombenangriffs 1945. Dass Gertrud Schubart aber auch eine der letzten Augenzeuginnen der Judenvertreibung ist, das wissen die wenigsten. Darüber und über ihre Jugendzeit im Zeichen des Nationalsozialismus sprachen wir mit ihr.
![Im Lager Adelsheim: Gertrud Stürnkorb (Mitte) mit zwei befreundeten Arbeitsmaiden. Digitalfotos: diba]()
Im Lager Adelsheim: Gertrud Stürnkorb (Mitte) mit zwei befreundeten Arbeitsmaiden. Digitalfotos: diba
Wenn Sie einem als die perfekte Gastgeberin in ihrem Wintergarten bei Kaffee und Kuchen plaudernd gegenübersitzt, dann sprudelt es gerade so heraus mit Erlebnissen aus der Jugendzeit. Die Namen und Daten sind selbst um achtzig Jahre zurück fast alle präsent und manches Bild aus der frühen Jugend taucht in allen Details wieder auf. Die 89-Jährige, die vor wenigen Tagen ihren Geburtstag feierte, muss sich nichts mehr beweisen. Sie kann zurückblicken auf eine Lebensleistung, die sich keineswegs nur über ihr literarisches Werk definieren lässt.
Die 22 Bücher (Lyrik, Erzählungen, Sammlungen) und die vielen Rundfunk- und Zeitungsbeiträge, ganz zu schweigen von den zahllosen Lesungen machen die Leidenschaft Gertrud Schubarts deutlich: die Pflege des Dialekts, aber auch der Umgang mit Sprache, Literatur und Lyrik im Hochdeutschen. Von ihren Mitstreitern auf diesem Gebiet lebt heute leider nur noch Walter Hampele aus Schwäbisch Hall. Jüngere sind hie und da nachgekommen, aber in Rothenburg wie im benachbarten Hohenlohischen sind die Lücken nicht zu übersehen.
Wichtige Zeitzeugin
In unserem heutigen Zeitzeugenbeitrag geht es aber um einen ganz anderen Lebensabschnitt der künstlerisch vielseitigen Rothenburgerin (die auch für ihre Bücher malt, zeichnet und fotografiert): Es ist die scheinbar unbeschwerte Zeit des bei Kriegsausbruch 13-jährigen Mädchens, das als Arbeitsmaid die Gemeinschaft im Reichsarbeitsdienst erlebt hat, die 1943 die Hotelfachschule in München-Pasing abschloss und damals noch „zum Führer aufsah“, ehe sie dann als 18-Jährige ansehen musste wie auch in Rothenburg alles in Trümmer fiel, selbst damit beschäftigt die Brandbomben aus dem Dachstuhl des Elternhauses, dem Gasthof „Greifen“ zu entschärfen.
![Erinnert sich noch an viele Details: Gertrud Schubart.]()
Erinnert sich noch an viele Details: Gertrud Schubart.
Mit Freude getragen
Im Alter von zehn Jahren kamen die Mädchen in der Regel zum BDM (ab 1936 Pflichtmitgliedschaft). Gertrud Schubart erinnert sich lebhaft an die feierliche Aufnahmefeier als Jungmädel mit Übergabe der Uniform: „Das schwarze Halstuch mit dem dazugehörigen braunen Lederknoten und den dunkelblauen Rock trugen wir mit Freude, denn das alles verstärkte unseren Gemeinschaftssinn. Dass diese Uniform auch regelmäßiges Erscheinen zum Dienst und zum Appell verlangte, war uns, in unserem anerzogenen Pflichtbewusstsein, selbstverständlich.“ Der beabsichtigte psychologische Effekt der Nationalsozialisten blieb nicht aus, das Selbstwertgefühl wurde gesteigert, man sah sich erhoben, um an der großen Aufgabe für die Zukunft Deutschlands mitzuarbeiten.
Im Jahr der Machtergreifung 1933 wurde Gertrud Stürnkorb (Mädchenname) eingeschult und erlebte eine glückliche Zeit in der Luitpoldschule unter dem von allen respektierten Lehrern Nagel und Kallert, der sehr väterlich gewesen sei. Natürlich sei damals auch der Unterricht durch Führer-Parolen bestimmt worden, den man als „von der Vorsehung gesandt“ ansah.
Radikalere Töne
1938 wurden die Konfessionen in den Schulen zusammengelegt, was einen neuen Klassenraum im Probstschulhaus zur Folge hatte (heute Jugendzentrum). Anstatt mit einem Gebet begann der Unterricht jetzt mit dem Hitlergruß und Sprüchen des Reichsjugendführers Baldur von Schirach. Der neue Lehrer Braun war, wie die Schüler schnell begriffen, ein überzeugter Nationalsozialist. Sonntags spielte der Katholik die Orgel in St. Johannis, in der Schule ging es ihm darum mit konsequenter Strenge die Mädchen zu „starken deutschen Frauen“ für den Führerstaat heranzuziehen. „Die Ideale des Führers wurden uns eingebläut”, berichtet Gertrud Schubart.
Die Jungmädel trafen sich im Fleischhaus am Markt oder im Burgturm. Neben Kampfgesängen stimmten die Mädchen Volkslieder und auch mal Scherzlieder an. Auf dem „Kuhbuck“ und dem „Essigkrug“ galt es stundenlanges Marschieren mit militärischen Kommandos einzuüben. Im Grafenbau in Burgbernheim lernten die Jungmädel das Morsen, die Runenschrift, altes Volksgut, machten Geländespiele oder Radtouren. Auch Theater spielte man und das Musizieren war wichtig.
Man verstand es die Jugend zu begeistern und sie nach der NS-Ideologie auszurichten. Gertrud Schubart rückblickend: „Sicherlich waren wir zu jung, zu unerfahren, zu leichtgläubig, vielleicht fehlte uns einfach die Fantasie, um den Ernst zu erkennen, der hinter den Aussagen stand.“ Wenn aus tausend Kehlen die Kampflieder schallten, habe man sich „stolz gefühlt zum auserwählten Volk zu gehören”.
Wer hätte seinen Kindern damals Reit- oder Motorsport, Segelfliegen oder Boxen sowie Harmonika-Spielen ermöglichen können? So fragt sie und betont, dass trotzdem nicht alle mit der nationalsozialistischen Staatserziehung einverstanden waren, aber sich wegen befürchteter Nachteile anpassten.
Perfide Judenhetze
Eines der „perfidesten und bösesten Erziehungsmittel“ war für die damalige Schülerin das antijüdische Hetzbuch „Der Giftpilz“ mit hässlichen verunstaltenden Zeichnungen und der Warnung an die Kinder mit Juden Kontakt zu haben. „War ein Kind in der Lage, diese menschenverachtende Rassendoktrin zu begreifen? Zumal es vielleicht, gerade in Rothenburg wohnhafte Juden kannte?“ fragt die Zeitzeugin.
Am 31. März 1941 fand die Schulabschlussfeier im Musiksaal statt, wobei es im zweiten Kriegsjahr viele Bekenntnisse zum Reich und Führer gab. Mit Durchhalteappellen wurde man entlassen und viele der Klassenkameraden fielen im Felde „ihre Wehr, ihr Herz und ihr Haupt weihend dem Vaterland.“ wie es hieß. Auf die vierzehnjährigen Mädchen wartete vom 14. bis 18. Lebensjahr der BDM (Bund Deutscher Mädel), dann die Organisation „Glaube und Schönheit“.
Frau Schubart: „Ich sehe noch gut die wallenden, stilvoll-weißen Kleider, in denen die Maiden auf dem Rasen der Alten Burg tanzten, vor mir. Die letzte Gliederung war die NS-Frauenschaft, wieder mit Führer- und Fahnenliedern zu den verschiedenen Appellen und Aufzügen.“ Bis zum bitteren Ende sei man „eingefangen und am selbständigen Denken gehindert worden durch die Parolen, die ständigen Hasstiraden jener kriegs- und unheilvollen Zeit.“
Ganz besonders aber ist Gertrud Schubart der Schultag vom 9. November 1938, ein Mittwoch, in Erinnerung (das Datum legen andere aufgrund der Quellenlage jedoch in den Oktober 1938, die Augenzeugin Schubart sagt aber, sie sei sich sicher und mehrere ältere Bekannte hätten ihr dies bestätigt). Wie wenn es gestern gewesen wäre, schildert sie uns ihre Erlebnisse, als sie die fünfte gemischte Klasse im Probst-Schulhaus besuchte. Lehrer Braun, der oft jähzornig und ungerecht gewesen sei, habe in SA-Uniform die Klasse angewiesen sofort heimzugehen und die Jungmädel- oder die Jungvolkuniform anzuziehen, um dann Punkt 10 Uhr vor der Franziskaner-Kirche zu erscheinen. An diesem kühlen, aber sonnigen Morgen standen die Buben und Mädchen schließlich mit anderen Schulklassen vor dem jüdischen Betsaal Herrngasse 21 (heute Modeladen an der Ecke).
Jüdischen Betsaal gestürmt
Die Herrngasse sei mit zahlreichen Schülern links und rechts gesäumt gewesen, alle in Uniform. Lehrer Braun habe befohlen: „Jetzt schreit fest Juden raus!“ Alle Klassen hätten die Anordnung befolgt und die Aufforderung herausgebrüllt, als sich die große Haustüre öffnete und „eine junge Frau mit schwarzem, gewelltem Haar“ heraustrat. „Was macht ihr denn, lasst uns doch in Frieden, wir haben euch doch nichts getan, hört doch auf!“ habe sie geschrien und „so jammervoll geweint, dass es einen rührte“. Gertrud Schubart heute: „Da wurde ich mir bewusst, welch böses Tun wir heraufbeschworen hatten!“ Durch die offene Türe sei eine große Meute, die Kameraden voraus, ins Haus gestürzt.
Sie selbst habe als Nachzüglerin den Gebetssaal betreten, einige hätten Gegenstände umgeworfen und die Einrichtungen zerstört. Als christlich erzogener Mensch, deren Vater bei den Brüdern Steinberger als Chauffeur angestellt war, so erzählt die Zeitzeugin, „hatte ich Scheu wie andere herumzutoben, und die Klage der Frau machte mir sehr zu schaffen.” Heute sehe sie noch diese weinende Frau händeringend und klagend auf der Straße stehen. Ein Rothenburger, der vorbeilief, habe den Kindern zugerufen: „Prägt euch nur noch einmal diese Judengesichter ein!”
Buben aus ihrer Klasse hätten sich später sogar gebrüstet, anschließend noch ins gegenüberliegende Haus der Familie Löwenthal (Gasthof „Meistertrunk“) eingedrungen zu sein. Dort hatte man die in der gepflasterten Tenne stehende Chaise umgeworfen und Parolen gegrölt, die Juden in Angst und Schrecken versetzt. Der Jungvolk-Spielmannszug begleitete mit Trommeln das unwürdige Spektakel.
Teilnahme verweigert
Ihr Mann, der spätere Oberbürgermeister Oskar Schubart, hatte im Oktober 1938 zur Judenvertreibung als Jungvolk-Angehöriger in der Judengasse antreten sollen, war aber als Sohn eines NS-Gegners zusammen mit einem Klassenkameraden nicht erschienen – was keine Folgen hatte. Sein Vater habe sogar den Hitlergruß verweigert und war zur Polizei vorgeladen worden. Ein wohlmeinender Polizist deckte ihn jedoch vor der Partei. Oskar Schubart hat als Russland-Kriegsteilnehmer Konkretes in der Kommunalpolitik zur Aussöhnung mit den ehemaligen Feinden geleistet, so vor allem durch die frühe Susdal-Städtepartnerschaft und die Versöhnung über den Gräbern der Welt- kriegsteilnehmer.
Für die BDM-lerin Gertrud gab es in der Kriegszeit ein weiteres nachdenkliches Erlebnis: Sie hat mitbekommen, wie ein Waffen-SS-Mann, (Handwerker aus dem Alten Keller), berichtete „dass man jemanden ans Krad gebunden und zu Tode geschleift hat”. Schubart: „Wir waren entsetzt, sowas zu hören“. Als junges Mädchen habe sie die Gemeinschaft wie z.B. um 1943 im Lager Adelsheim bei Osterburken als spannend und positiv erfahren, sagt sie ganz ehrlich und ist sogar bis heute mit einer über 90-jährigen ehemaligen Kameradin aus dem Rheinland freundschaftlich verbunden.
Die Autorin Gertrud Schubart hat aus der Geschichte nachhaltig gelernt, sie ist dankbar für die Demokratie und den langen Frieden. Ihre unbeschönigte Schilderung verdeutlicht, wie verführbar die Jugend in einem totalitären Staat (aber nicht nur dort!) ist. Dass das Nachkriegs-Deutschland eine „streitbare, wehrhafte Demokratie“ postulierte hat gute Gründe… diba