Mit Entschlossenheit und Standfestigkeit ins Herz des Reiterlesmarkts
ROTHENBURG – Es heißt, was lange währt, wird irgendwann gut. In diesem Fall hat es 35 Jahre gedauert, bis sich der Kindheitswunsch von Jörg Bernicken endlich erfüllte: Denn sein einstmals kleines Tännchen schmückt heuer als stattlicher Weihnachtsbaum den Rothenburger Marktplatz. Stets liebevolle Zuwendung sorgte dafür, dass die Blautanne jeglichen Widrigkeiten trotzte und nun von Menschen aus aller Welt bewundert werden kann.
Es war fast wie ein vorgezogenes Weihnachtsfest: Die Familie ist vereint, man versammelt sich um den Weihnachtsbaum, es werden Fotos gemacht und es fließen Tränen (der Freude). Selbst der vielbeschäftigte Sohn konnte sich von der Arbeit frei machen und reiste dafür extra aus München an. Schließlich ging es indirekt auch um ihn. Doch die Feier fand nicht im heimischen Wohnzimmer statt, sondern auf dem Rothenburger Marktplatz. „Jetzt sieht die ganze Welt meinen Baum“, freute sich der 42-jährige Jörg Bernicken, als sich auch gleich zwei japanische Touristinnen vor dem gerade erst aufgestellten Weihnachtsbaum fotografieren ließen.
Noch eine Stunde zuvor stand die Blautanne im Vorgarten der Familie Bernicken in Neusitz. Die Mitarbeiter des städtischen Bauhofs rückten mit schwerem Gerät an und verfrachteten den stattlichen Baum ohne Probleme auf den Lastwagen. Vater Armin Bernicken ist immer noch beeindruckt, wie professionell sich die städtischen Arbeiter angestellt haben, obwohl sie diese spezielle Arbeit ja nur einmal im Jahr machen müssen. Selbst die Fahrt unter der Autobahn hindurch und durch die engen Gassen in der Stadt meisterten sie souverän.
Die Leidenschaft des Sohnes für den Weihnachtsbaum begann wohl mit der Erzählung „Der kleine Tannenbaum“ von Manfred Kyber. Bei Familie Bernicken wird das Fest der Liebe immer besonders stimmungsvoll begangen. Auch heute noch darf – obgleich die „Kinder“ bereits die 40 Jahr-Marke überschritten haben – eine Weihnachtsgeschichte nicht fehlen. Das Schicksal der kleinen Tanne, deren sehnlichster Wunsch es war, einmal als Weihnachtsbaum von einem Wichtelmann ausgewählt zu werden, die aber Jahr um Jahr immer übergangen wurde, beeindruckte den damals 7-jährigen Jörg zutiefst.
Unrecht geraderücken
Dieses Unrecht musste doch irgendwie geradezurücken sein. Zumindest einem dieser unglücklichen Zeitgenossen wollte das jüngste Familienmitglied dazu verhelfen, einmal in voller Pracht zur Weihnachtszeit bewundert zu werden. Seine Eltern überraschte er sodann mit dem Entschluss, im örtlichen Lebensmittelgeschäft eine Blautanne im Topf von seinem eigenen Taschengeld kaufen zu wollen. Gesagt, getan: Das 70 Zentimeter hohe Bäumchen stellte er auf den Gepäckträger seines roten Fahrrads und brachte es, das Rad ganz vorsichtig schiebend, nach Hause, erinnert sich sein Vater Armin Bernicken.
Zwei Wochen lang kam so das Bäumchen festlich geschmückt im Zimmer seines Retters zur Geltung. Selbst der Wechsel vom wohlig warmen Kinderzimmer hinaus in den kalten Vorgarten machte ihm nichts aus. Zwei Jahre konnte er sich dort sorgenfrei entfalten. Dann stand für die Familie der Umzug ins Eigenheim an. Würde dies das Ende der Bande zwischen Bub und Baum sein? Natürlich nicht, denn wie schon beim Kauf der Blautanne, zeigte Jörg erneut seine Entschlossenheit. Nicht einmal im Traum dachte er daran, seinen Baum den neuen Bewohnern zu überlassen – er musste mit umziehen.
Fest entschlossen
Und um ein für alle mal die Marschrichtung für die kommenden Jahre vorzugeben, schrieb er seinen Eltern ins Stammbuch: „Wenn wir den Baum einmal fällen müssen, dann soll er wieder ein Weihnachtsbaum sein.“ Mit etwas Skepsis beobachtete die Familie, ob der Baum am neuen Ort wieder Wurzeln schlagen würde. Aber scheinbar hat er sich die Entschlossenheit von seinem Ziehvater abgeguckt: Er wuchs und wuchs und wurde Jahre später auch mit elektrischen Kerzen geschmückt.
Doch selbst die umsorgteste Pflanze hat ab und an mal einen Durchhänger. Plötzlich machte die sonst so stattliche Blautanne ihrem Namen keine Ehre mehr: Die Nadeln wurden rot. Mit den fordernden Worten seines Sohnes im Hinterkopf setzte sich Armin Bernicken an den Computer. Frühfrost, Spätfrost, Rüsselkäferfraß, Milben und Läuse wurden als mögliche Ursachen angezeigt. Auch die dazu passende Lösung wurde gleich präsentiert. Von einem schweizer Fachmann ließ sich der Vater ein „nicht ganz billiges“ Mittel schicken, das er täglich – auf der viel zu kurz gewordenen Leiter stehend– über die noch erreichbaren Äste sprühte. Und das Wunder geschah, die Nadeln wurden wieder grün, erzählt Armin Bernicken immer noch überrascht von der Standfestigkeit der Tanne.
Der Baum hat sich nicht nur wieder berappelt, er nahm im Laufe der Zeit auch so an Größe und Umfang zu, dass die Eltern fürchteten, er könne bei einem Sturm auf das Haus stürzen und obendrein noch mit seinen Wurzeln den Abwasserkanal in Mitleidenschaft ziehen. Ein Entschluss wurde gefasst: Die Tanne muss weg. Doch wie sollte sie dann noch ihre letzte Bestimmung als Weihnachtsbaum finden? Zuerst wurde bei der Heimatgemeinde angefragt. Aber in Neusitz hatte man lediglich Verwendung für die Zweige. Das war natürlich nicht das Ende, das sich der Sohn für seine Tanne wünschte und wenn er es sich recht überlegte: Eigentlich komme auch nur der weltberühmte Rothenburger Reiterlesmarkt als Standort für seinen Weihnachtsbaum in spe in Frage.
Der erste Versuch scheiterte allerdings, weil die Stadt schon einen passenden Baum hatte. Heuer war es dann endlich soweit, der langgehegte Kindheitswunsch wurde endlich erfüllt. Doch jetzt klafft im Vorgarten eine unschöne Lücke, findet wohl Sohn Jörg. Denn er möchte dort unbedingt wieder einen Baum pflanzen. Die Eltern und Kater Felix sind hingegen eher froh: Sie haben nun freien Blick nach draußen und mehr Tageslicht im Wohnzimmer.
Und auch die allerletzte Reise des Baumes ist bereits beschlossene Sache: Mit dem Bauhof hat Armin Bernicken vereinbart, dass die Tanne nach ihrem glanzvollen Auftritt auf dem Marktplatz ihr Ende im Ofen eines bedürftigen Einwohners finden wird. Ein kleiner Teil des Baumes wird aber bei Jörg Bernicken verbleiben. Er hat sich als Andenken eine Baumscheibe mit den Jahresringen mitgenommen. mes